In manchen Gegenden der Niederlande ist ein Phänomen anzutreffen, das Besucher aus Deutschland mitunter irritiert, häufig aber neugierig macht. Wer beispielsweise durch die Straßen von Utrecht wandelt, trifft dort blankgeputzte Fenster an, die einen gardinenfreien Blick in das Privatleben der Hausbewohner gewähren. Gläserne Bewohner praktisch. Die Botschaft: Hier wohnt jemand, der nichts zu verbergen hat.
Vielleicht ist das der größte kulturelle Unterschied zu uns Deutschen, bei denen die Privatsphäre (noch) einen sehr hohen Stellenwert genießt. Die Titelgeschichte im Spiegel von dieser Woche „Im Netz der Späher“ geht am Rande auf dieses Phänomen ein. Der Beitrag analysiert die Methoden, derer sich in erster Linie die US-Amerikanischen Internetgiganten, aber auch zahlreiche Werbevermarkter bedienen, um die „Bewohner“ des Internets zu durchleuchten, gläsern zu machen. Während dies in der deutschen Öffentlichkeit immer wieder zu weitgehend folgenloser Empörung führt, stört sich in den USA kaum jemand daran. Und auch die Netzgemeinde in Deutschland findet nichts dabei. Reflexartig fällt sie demzufolge auch über den Autor Manfred Dworschak, der in seinem gut recherchierten Beitrag auf polemische Zuspitzungen eigentlich weitgehend verzichtet, her. Das ist symptomatisch. Längst ist ein Kulturkampf um das Netz entbrannt, in dem harte Bandagen zum festen Repertoire gehören. Nicht immer gibt die Netzgemeinde ein gutes Bild ab. Und natürlich brechen auch Politiker gerne Debatten vom Zaun, die ihnen viel Publicity bescheren, ohne dass es am Ende wirkliche Konsequenzen gibt. Sicher ist es aber auf beiden Seiten des digitalen Grabens vielen sehr ernst mit ihrem Anliegen. Und beide können gute Argumente ins Feld führen.
Im Kern zeigt sich aber, dass im Netz ein Kampf zwischen zwei grundverschiedenen Kulturen tobt. Der mitteleuropäisch geprägten, auf Privatsphäre bedachten, in der gerade die Deutschen aufgrund von Erfahrungen ihrer jüngeren Geschichte zu besonderer Vorsicht neigen. Auf der anderen Seite die US-Amerikanisch geprägte, in der Daten zur Ware werden und sich scheinbar niemand daran stört, detaillierte persönliche Informationen der Netzwelt transparent zu machen, vor allem aber den Datenhunger der großen Konzerne zu stillen.
Wo aber liegt der Ursprung dieses kulturellen Grabens? Und warum wird so heftig gestritten? Vielleicht weisen die holländischen Gardinen – die, die es nicht gibt – in die richtige Richtung. Deren Wurzeln sind nämlich im Calvinismus, der bis heute in Holland sehr dominant ist, zu suchen. Seine Ich-habe-nichts-zu-verbergen-Mentalität ist eng verwandt mit der des amerikanischen Puritanismus. Das Phänomen ist also vielleicht um Jahrhunderte älter als das Netz.
Ebenso interessant wie erschreckend mag es sein, dass einige der digitalen Puritaner des Internets eine ähnliche Rhetorik pflegen wie die amerikanischen Evangelikalen, wenn diese sich über Andersdenkende – in der Regel sind das Demokraten – äußern. Natürlich gilt in Bezug auf beide – Netzgemeinde und wahrscheinlich auch die Evangelikalen – dass in erster Linie die gehört werden, die am lautesten schreien. Die vielen besonnenen Stimmen gehen in den hitzig geführten Debatten leider allzu leicht unter. Trotzdem, gewisse Parallelen lassen sich erkennen.
Bemerkenswert ist allerdings, wie das puritanische Amerika auf Wikileaks reagiert. Julian Assange, der die Kultur der Transparenz im Netz bis zur letzten Konsequenz zu Ende führt, wird zum Staatsfeind Nummer 1. Ist das eine Doppelmoral? Ist Transparenz vielleicht doch nur dann angebracht, wenn sie sich in harte Dollars ummünzen lässt? Oder gibt es schlichtweg Dinge, die auch für das puritanische Amerika besser im Verborgenen stattfinden?