Ich bin jetzt in einem Alter, in dem mein Großvater bereits zwei Kriege durchgemacht hatte. Als Junge erlebte er die Schrecken des ersten Weltkriegs und den Hungerwinter 1917. Als Mann in den mittleren Jahren wurde er noch an die Ostfront geschickt.
Solche Erfahrungen sind mir und meiner Generation glücklicherweise erspart geblieben. Und hoffentlich gilt das gleiche für die künftigen Generationen. Auch wir sind Zeuge vieler Ereignisse geworden und werden es täglich. Großes und Bewegendes. Schreckliches, Welterschütterndes und Katastrophen. Das meiste davon sehen wir durchs Opernglas. Es sind die Medien und das Netz, die uns den Blick auf die Welt öffnen wie durch eine Glaskugel. Und doch ist das Gelesene, Gehörte, Gesehene so schnell vergessen. Denn eine Nachricht jagt die andere.
Was haben wir alles erlebt? Das Ende der deutschen Teilung. Den Fall des Eisernen Vorhangs. Eine europäische Einigung, wie sie vor 40 Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre. Den kometenhaften Aufstieg Chinas. Eine unglaubliche Wirtschaftskrise. Eine Welt im Umbruch. Vielleicht erleben wir als nächstes, wie sich die arabische Welt erhebt und sich ihrer Diktatoren (die nicht selten von den westlichen Demokratien gehätschelt werden oder wurden) entledigt. Die omnipräsente Medienmaschine bringt uns die Nachrichten und Bilder ins Wohnzimmer, an den Frühstückstisch, ins Auto, ins Cafe, auf das Handy und – tres chique – aufs iPad.
Noch näher dran sind mittlerweile die Sozialen Netzwerke. Wer Freunde in aller Welt hat, kann auf Facebook in Echtzeit miterleben was sie bewegt, was sie fühlen und denken. Gerade erst ließ sich auf Twitter verfolgen, wie in Tunesien ein Volk gegen die erstarrten Eliten der Macht aufstand. Es ist noch nicht lange her, da gab es einen ähnlichen Versuch im Iran. Er wurde brutal niedergeschlagen. Aber zigtausende verfolgten es auf Twitter und fieberten mit den Menschen auf den Straßen. Und heute? Alles schon vergessen?
Die Zeitung ist natürlich keine Erfindung unserer Zeit, ebensowenig wie Radio und Fernsehen. Vor 60 Jahren erfuhren die Menschen im Lande aus Zeitung, Wochenschau und Radio, was sie über die Welt und ihre Kriege wissen wollten oder sollten. Die linientreue Interpretation der Ereignisse bekamen sie gleich mitgeliefert. Meinungsfreiheit? Fehlanzeige! Die einzige direkte Informationsquelle von der Front war die Feldpost. Die war Wochen unterwegs. Meine Großmutter bewahrt solche Schätze bis heute auf. Es steckt viel Liebe drin, aber wenig ungeschminkte Wahrheit. Man wollte die Lieben in der fernen Heimat ja nicht beunruhigen…
Erst nach dem Krieg kam die junge Republik so langsam in den Genuss von Meinungsvielfalt und freien Medien – zumindest im Westen. FAZ, Spiegel und ARD haben bekanntlich damals unter anderem das Licht der Welt erblickt.
Heute ist die Meinungsfreiheit hierzulande fast grenzenlos und die Meinungsvielfalt unüberschaubar. Auch der Schreiber kann, wie jeder andere, seine bescheidene Meinung ungestraft und unzensiert kundtun und ins Internet stellen. Das ist leider immer noch nicht selbstverständlich. In China und im Iran, auf Kuba, in Russland und in allzu vielen anderen Ländern ist die Realität eine andere. Journalisten und Blogger leben dort gefährlich. Und auch in den demokratisch legitimierten Staaten der EU gibt es Negativbeispiele: Berlusconis Italien, Rumänien, Bulgarien, bald vielleicht auch Ungarn.
Was machen wir aber mit der Meinungsvielfalt und Informationsflut? Wir leben in einer Welt in Bewegung. Und nie war eine Generation so nah bei den Ereignissen, hatte so viel Zugang zu Informationen und Bildern. Und noch nie war es angesichts der Nachrichtenflut so leicht zu vergessen.